Eine unwirkliche Première in Canudos

Liebe Freunde des Meeres des Pilgers Antonio,
es ist 9 Uhr morgens, und die Hitze des Tages klebt schon wieder an unseren Körpern. Es wird Zeit, endlich eine Rundmail aus Canudos zu schicken.

Die Seele geht zu Fuß
Vier Tage vor Beginn unserer Reise wurden unsere Pläne plötzlich vollständig durcheinandergewirbelt. Auf dem Strand von Den Haag lag scheinbar eine Bakterie in der Sonne brütend und darauf wartend, sich durch eine winzige Wunde an Mendels Fuß in seinem Bein einzunisten… Das Resultat war Fieber, ein rotes, heftig schmerzendes Bein, 3 Tage Krankenhausaufenthalt und das Verschieben unserer Abreise.
Als wir dann endlich reisebereit waren, beschlossen wir, die wunderschönen langen Busreisen, die uns die letzten Male immer hierherbrachten, einzutauschen gegen einen Inlandflug nach Salvador. Damit wollten wir die Verspätung etwas einholen, und dem Bein lange Reisen ersparen. Doch einmal im Sertão angekommen, merkten wir, dass wir grosse Mühe hatten, hier wirklich zu “landen”. Die Busreisen waren nämlich immer eine wunderbare Möglichkeit, in die Verlangsamung zu gelangen, die so wichtig ist, um hier wirklich ganz dasein zu können: um eine Umgebung zu erleben, in der sich nicht alles dreht ums Tun, sondern viel mehr ums Sein. Um sehen, hören, riechen und fühlen zu können, anstatt vor allem wahnsinnig beschäftigt zu sein, so wie dies in den Niederlanden vor unserer Abreise der Fall war. Denn in einem Bus gibt es nicht viel mehr zu tun, als zu sitzen und zu schauen – zu erfahren, dass man da ist, während die Landschaft sich im Vorbeiziehen den Augen entfaltet.

In Canudos angekommen, fuhren wir sofort weiter an den Ort, der für uns so besonders war: die momentan wieder auf dem Trockenen liegenden Ruinen der Kirche des zweiten Canudos, die wir noch nie mit eigenen Augen gesehen hatten. Doch so wie ein Sprichwort es sagt: Der Körper geht mit dem Dampfzug, doch die Seele folgt zu Fuß. Wir kamen bei den Ruinen an, standen dort und schauten, doch fühlten nichts. Als wäre unsere Seele noch nicht angekommen. Jetzt, mehr als 2 Wochen später, kommt langsam mehr Ruhe in uns und erfahren wir, wie es ist, einfach nur gemeinsam mit Menschen dazusitzen und zum Horizont zu schauen, ohne dass es Worte dazu braucht. Dieses Wiedersehen mit den Menschen aus dem Film ist sehr schön und herzlich, und wir sind dankbar dafür.

Ruinen von Canudos ragen aus dem Wasser empor
Eine unwirkliche Premiere
Am Morgen des Tages der Filmpremiere hier wurde Susanne krank. Der Chicungunya-Virus, eine afrikanische Krankheit, die durch dieselbe Mücke übertragen wird wie der Dengue-Virus und bis vor kurzem hier noch unbekannt war. Sehr wahrscheinlich ist sie letztes Jahr mit der Fussball-WM in Brasilien eingeschleust worden. Die Krankheit ist eine sehr unangenehme Mischung aus hohem Fieber, scheusslichen Gelenkschmerzen, roten Punkten am Körper mit Juckreiz und totaler Erschöpfung. Nicht gerade, was Susanne sich gewünscht hatte für diesen Tag.

Später am Tag zeigte sich, dass Marlinde auch krank war.
Am Abend lagen die beiden also fest im Bett in unserem Häuschen am Platz des kleinen Örtchens Canudos Velho. Was sie von der Premiere miterleben konnten, waren Fetzen von Geräuschen des Films, der auf der anderen Seite des Platzes auf der weissen Wand der kleinen Kirche gezeigt wurde. Danach Applaus, und schliesslich die Musik von Landinho, dem Fischer und Akkordeonist aus dem Film. Eine Woche vorher war er 80 Jahre alt geworden – was wir zum Anlass nahmen, ihn nach der Premiere mit Kuchen zu feiern, und er wollte zusammen mit Freunden gerne selbst für die Musik sorgen. Für Susanne war es ein trauriger Anfang unserer Tournee.

Estreia-IMG_6673

Bänke und Stühle aus Kirche und Schule warten auf die Premiere...

Bänke und Stühle aus Kirche und Schule warten auf die Premiere…

...doch der Sonnenuntergang lässt lange auf sich warten.

…doch der Sonnenuntergang lässt lange auf sich warten.


Für Mendel war die Premiere nicht weniger seltsam. Der ganze Tag war schon ein Wirrwarr gewesen von Sorge und Pflege für Susanne und Marlinde, gemischt mit allem, was noch geregelt und aufgebaut werden musste für die Premiere. In einem Versuch, diesen Moment, auf den wir so lange hingelebt und -gearbeitet hatten, doch noch soviel wie möglich gemeinsam zu erleben, lief Mendel auch während der Vorführung immer wieder über den Platz hin und her, um im Haus nach Susanne & Marlinde zu sehen. Der Abend verlief wie in einem Rausch. War das worauf wir hingelebt hatten? Und was war der Sinn hiervon?

Neben Landinho saß auch Francisca de Osvaldo im Publikum – die Frau, die am Ende des Films erzählt, wie sie ihr Haus leerräumt am Tag, als das Wasser des Stausees reinströmte. Unsere ersten Tage hier waren wir in ihrem Haus zu Gast gewesen. Und in der ersten, als Ehrengast, saß Reihe Maria do Carmo, die Sängerin. Sie strahlte während des gesamten Films übers ganze Gesicht und musste auch herzlich über sich lachen.
Nach dem Ende des Films zeigten wir einige kurze Filmaufnahmen, die von Zuschauern in den Niederlanden, Deutschland und der Schweiz für die Menschen hier im Sertão aufgenommen worden waren. Ihre Berührung war für die Zuschauer hier deutlich spürbar, und sprang über aufs Publikum hier auf dem kleinen Platz. Und danach gab es noch einen herzlichen Applaus für Maria do Carmo, der den Abend auch gelungen sein ließ: niemand hier hatte davor eine Ahnung davon, was für einen Schatz an Liedern und Gedichten sie im Laufe der Jahre geschaffen hat.

Sonnenuntergang in Canudos Velho
Dann begann das Fest zu Ehren Landinhos. Ungefähr im selben Moment beschlossen wir, mit Marlinde ins Krankenhaus zu fahren, in Uauá, 45 km entfernt. Sie hatte sehr hohes Fieber und trank kaum, bei den hohen Temperaturen hier. Schon bald hörte Landinho davon, und beschloss, mit dem Spielen aufzuhören, wodurch sein Fest, das gerade erst begonnen war, schon wieder zu einem Ende kam.

Im Krankenhaus angekommen stellte sich heraus, dass auch Mendel schon stundenlang mit demselben hohen Fieber herumgelaufen war, und wir wurden alle 3 zur Beobachtung aufgenommen. Glücklicherweise durften wir um 4 Uhr nachts doch wieder gehen, und fanden ein Krankenquartier bei sehr lieben Menschen in dem Städtchen dort: der Familie, die Ziegenglocken auf dem Markt in Canudos verkauft und bei der wir vor vielen Jahren einen ganzen Tag damit verbracht hatten, Hunderten Ziegenglocken, die mittlerweile schon in halb Europa klingeln, Stück für Stück auszusuchen. Wir waren seitdem mit ihnen befreundet, und eine ihrer Töchter war zur Premiere gekommen und hatte danach die Nacht mit uns im Krankenhaus ausgeharrt. Drei Tage wurden wir von der gesamten Familie umsorgt, bis wir uns wieder soweit bei Kräften fühlten, zurückzukehren in unser eigenes Häuschen hier. Die Reste der für uns alle so unwirklich erscheinenden Premiere waren in der Zwischenzeit von anderen Freunden aufgeräumt worden und in unserem Kühlschrank fanden wir noch Kuchen des Festes, für uns aufgehoben.
Auch Francisca, bei der wir zu Anfang übernachtet hatten, war am Tag nach der Premiere krank geworden. Sie ist 88 Jahre alt, und eine Tochter hatte sie zu sich nach Hause geholt, 200 km weiter, um sie zu pflegen. Beinahe täglich fuhren wir die vergangene Woche an ihrem immer noch verschlossenen Haus vorbei und machten uns Sorgen um sie. Und heute ging plötzlich ihre Türe auf und trat sie vor ihr Haus! Was für ein freudiges Wiedersehen und welch große Erleichterung, zu hören, dass es ihr wieder gutgeht.

Francisca de Osvaldo
Durch unsere Krankheit mussten wir leider einige Vorführungen absagen. Erst langsam bekamen wir wieder Kräfte, um unsere Arbeit aufzunehmen. Die totale Erschöpfung, die noch in unseren Körpern festzusitzen schien, weicht nach und nach, und auch unsere Gelenkschmerzen werden langsam besser. Gestern fuhren wir mit Sängerin Maria do Carmo zur Markt in Canudos. Es tat so gut, wieder mit der Kraft unserer eigenen Beine herumschlendern zu können, die Gerüche von frischgemahlenem Pfeffer und Zimt in uns aufzunehmen, und beladen mit Obst und Gemüse nach Hause zurückzukehren.

Und mit der Kraft, die zurückkehrt, sehen wir auch wieder mehr die schönen Dinge um uns herum und können sie in uns aufnehmen und Da-sein. Das ist gut.

Und das wünschen wir auch Ihnen und euch allen von Herzen!

Mit ganz liebem Gruss aus dem Sertão,
Susanne & Mendel

Esel am trockenen Fluss

This entry was posted in Rundmails. Bookmark the permalink.